Fabricio Maciel hat mein Buch »Teorema da expropriação capitalista« rezensiert. Die Besprechung finden Sie hier. Eine deutsche Übersetzung können Sie an dieser Stelle nachlesen.Der Kapitalismus ist ein sich ständig wandelndes System, das ein unablässiges Bemühen um seine Neuinterpretation erfordert. Dieser Aufgabe widmet sich der deutsche Soziologe Klaus Dörre seit Jahren und ist damit einer der wichtigsten Interpreten des zeitgenössischen Kapitalismus. Die jüngste Veröffentlichung seines Buches »Theorem der kapitalistischen Enteignung« durch Boitempo bietet der brasilianischen Öffentlichkeit eine ausgezeichnete Gelegenheit, das Werk dieses Autors, das angesichts der aktuellen Dilemmata dringend erforderlich ist, eingehend kennen zu lernen.
Klaus Dörre ist in der deutschen Szene und im gesamten nordatlantischen Raum aus mehreren Gründen bekannt geworden. Er ist zweifellos einer der Namen, die den zeitgenössischen Marxismus erneuert haben, und er wird heute auch in Lateinamerika viel gelesen. Darüber hinaus ist er einer der wegweisenden Autoren in den Debatten um Prekarität und Prekarisierung von Arbeit in Deutschland und hat u. a. gemeinsam mit Robert Castel den 2009 erschienenen Sammelband Prekarität, Abstieg, Ausgrenzung organisiert. Durch die Beteiligung bedeutender Autorinnen und Autoren wurde das Buch schnell zu einer Referenz in Europa.
Auch 2009, im Kontext der im Jahr zuvor begonnenen Weltwirtschaftskrise, führte Dörre zusammen mit seinen Kollegen Hartmut Rosa und Stephan Lessenich eine der wichtigsten aktuellen Debatten zum zeitgenössischen Kapitalismus. Gemeinsam veröffentlichten sie Soziologie – Kapitalismus – Kritik, in der sie ihre Theorien der kapitalistischen Enteignung (Dörre), der Beschleunigung (Rosa) und der sozialen Aktivierung (Lessenich) gegenüberstellten. Dieses Buch wurde auch schnell zu einer zentralen Referenz für die Kapitalismusdiskussion nach der Krise von 2008, mit der die drei Autoren, die als Hauptvertreter der »Jenaer Schule« gelten, die Debatte entscheidend prägten.
Dörres Werk lässt sich nicht nur in den Kontext der Erneuerung des deutschen und europäischen Marxismus einordnen, sondern auch als entscheidender Beitrag zur Erneuerung der soziologischen Theorie insgesamt. Nach einer langen Periode der Dominanz von Theorien, die ein vermeintliches Ende der zentralen Bedeutung von Arbeit und Klassen als Interpretationskategorien heraufbeschworen, die in den 1980er Jahren begann, erleben wir nun die Rückkehr der Vitalität solcher Konzepte neben der Idee des Kapitalismus selbst, insbesondere nach 2008. Mit anderen Worten, die kapitalistische Realität selbst und die globale Verschärfung ihrer vielfältigen Ungleichheiten haben die Revision solcher Theorien erforderlich gemacht.
In diesem Szenario hat sich Dörre stets als dynamischer Theoretiker erwiesen, der sich mit verschiedenen Perspektiven auseinandersetzt und nicht nur den schönen Marxismus von Autoren wie Rosa Luxemburg rekonstruiert, von der er den Begriff der Landnahme übernimmt, sondern auch Autoren wie Hannah Arendt durchläuft und sich kritisch mit den Werken von Bourdieu und Boltanski u. a. auseinandersetzt. Damit zeigt der Autor, dass die Vitalität der Theorie von einer ernsthaften Auseinandersetzung mit ihren verschiedenen aktuellen Konfigurationen abhängt.
Kürzlich hat Klaus Dörre das Buch Die Utopie des Sozialismus: Kompass für eine Nachhaltigkeitsrevolution (2021) veröffentlicht, in dem er der Öffentlichkeit einige seiner zentralen Ideen vorstellt, die er seit Jahren entwickelt hat, darunter die Idee, dass eine nachhaltige Revolution in den zentralen Ländern des Kapitalismus angesichts der doppelten Krise, der ökonomischen und der ökologischen, in der sie sich befinden, unerlässlich ist.
In Brasilien ist das Werk des Autors in den letzten Jahren allmählich bekannt geworden. So nahm er beispielsweise an einer der Konferenzen des Jahreskongresses der ANPOCS im Jahr 2017 und am Kongress der Brasilianischen Soziologischen Gesellschaft im Jahr 2021 teil. Darüber hinaus veröffentlichte er 2015 in der Zeitschrift Recht & Praxis (UERJ) den Artikel »Die neue Landnahme: Dynamik und Grenzen des Finanzkapitalismus« und den Artikel »Capitalismo de risco. Landnahme, zweigeteilte Krise, Pandemie. Chance für eine nachhaltige Revolution?«, in der Zeitschrift Gesellschaft & Staat (UnB), im Jahr 2020.
Mit der Veröffentlichung des Theorems der kapitalistischen Enteignung in portugiesischer Sprache haben wir nun Zugang zu einer Reihe von Texten, die eine gute Synthese der umfangreichen Produktion und theoretischen Analyse des Autors darstellen. Das Buch ist eine weitere hervorragende Veröffentlichung der von Ricardo Antunes koordinierten Sammlung »Welt der Arbeit«, mit einer Präsentation von Guilherme Leite Gonçalves, einem Vorwort von Lena Levinas und einem vierten Umschlag von Ruy Braga und Virgínia Fontes.
Das Buch ist didaktisch in drei Teile gegliedert: Allgemeine Theorie des kapitalistischen Enteignungsregimes (I), Kapitalistische Enteignung und soziale Klassen (II) und Die Rückkehr der kritischen Soziologie (III). In Kapitel 1, Teil 1, stellt der Autor seine Theorie der kapitalistischen Landnahme vor, die hier mit »Enteignung« übersetzt wird. Mit diesem Konzept versucht Dörre zu thematisieren, dass der Kapitalismus ein sich immer weiter ausbreitendes System ist, das in seinem ununterbrochenen Enteignungsprozess ständig auf die Kolonisierung eines nicht oder weniger kapitalistischen »Anderen« angewiesen ist.
Dieses »Andere« kann aus Ländern, Völkern, sozialen Klassen, Gruppen und sogar Daten bestehen – ein Thema, das heute von großer Bedeutung ist -, die noch nicht vollständig der totalen Profitlogik unterworfen sind. Bei der Erläuterung der Frage »Was ist Kapitalismus?« geht der Autor unter anderem auf die wichtigen Arbeiten von Karl Polanyi ein, für den die positive Freiheit nur durch die Beschränkung und Regulierung der Marktkräfte existieren kann. Das ist genau das Gegenteil von dem, was wir heute auf globaler Ebene erleben.
Bei dem Versuch zu verstehen, »wie sich der Kapitalismus entwickelt«, macht Klaus Dörre eine wichtige Unterscheidung zwischen Marktwirtschaft und Kapitalismus, den er für »ein absurdes System« hält. Indem er die »Verallgemeinerung der kapitalistischen Enteignungsthese« anhand von Hannah Arendt und Rosa Luxemburg sowie Gramsci und David Harvey rekonstruiert, versteht der Autor, dass Akkumulationsregime, Regulierungsformen und Produktionsmodelle zur Selbsterhaltung des Kapitalismus ständig umgestoßen und transformiert werden. Darüber hinaus legt der Autor eine schöne Analyse der gemischten Wirtschaft des sozialbürokratischen Kapitalismus und der Krise des Fordismus vor. Auf die Frage, was im Finanzkapitalismus »neu« ist, gibt Dörre die Antwort, dass Prekarisierung die Folge eines finanziell motivierten kapitalistischen Enteignungsregimes ist, das Institutionen und Systeme der Marktregulierung deformiert, untergräbt und schwächt.
In Kapitel 2 zeigt Klaus Dörre, wie der globale Norden in einem Wachstumsdilemma steckt, da er nicht in der Lage ist, eine expansive Selbststabilisierung mit nachhaltigem Wachstum zu fördern. Damit versteht der Autor, dass kapitalistische Gesellschaften zu ihrer Selbststabilisierung eine kontinuierliche Steigerung des gesellschaftlichen Reichtums benötigen, die nur durch die Internalisierung externer, bisher ungenutzter und nun kommodifizierter Räume erreicht werden kann. In Anlehnung an Hannah Arendt zeigt Dörre, dass die vermeintlich unbegrenzte Akkumulation von Kapital der Akkumulation von ebenso unbegrenzter Macht in ihrer ideologischen Selbstlegitimation vorausgeht. Darüber hinaus versteht er die Krise 2008-2009 als eine raum-zeitliche Verdichtung der selbst gesetzten Grenzen der Akkumulation und Reproduktion des Finanzkapitalismus. Angesichts dessen stellt Klaus Dörre treffend fest, dass dem globalen Norden der Mut fehlt, dem Expansionismus abzuschwören.
Auf der Suche nach Auswegen versteht Dörre, dass der Übergang zu »Postwachstumsgesellschaften« utopisch erscheint, da er die kapitalistische Vergesellschaftung betrifft. Dennoch gibt es für ihn Ansatzpunkte in den heutigen Gesellschaften. Die kapitalistische Wirtschaft kann in ihrer reinen Form nicht mehr existieren. Sie bleibt abhängig von Sektoren, die nicht nach den Geboten von Wachstum und Profit funktionieren. Dörre denkt dabei zum Beispiel an die Pflegearbeit. Mit anderen Worten: Es gibt einen Ausweg aus der Logik der kapitalistischen Enteignung.
Im dritten Kapitel, nun in Teil 2, rekonstruiert Klaus Dörre die zeitgenössische Diskussion über Prekarität, die er kreativ als »die Auferlegung eines Systems ständiger Kraftproben für die Volksklassen« definiert. Er begreift Prekarität auch als eine relationale Kategorie, die unmittelbar von der Definition der in jeder Gesellschaft vorherrschenden sozialen Normalitätsstandards abhängt. Damit definiert der Autor Deutschland, ein Kernland, das wie andere heute unter Prekarität leidet, als »prekäre Gesellschaft der Vollbeschäftigung«.
Der Autor versteht Prekarität auch als einen Mechanismus der Disziplinierung, der fremdenfeindliche und rechtspopulistische Tendenzen fördern, aber auch zu Protesten führen kann. Diese Definition ist Klaus Dörre nach jahrelanger empirischer Forschung in Deutschland möglich, in der er aufgezeigt hat, welche Gründe immer wieder erhebliche Teile der Arbeiterklasse dazu gebracht haben, sich rechtsextremen Einstellungen anzuschließen. Schließlich sieht Dörre Gesellschaften wie die brasilianische als »prekäre Gesellschaften« an.
In Kapitel 4 wird der Autor die These vertreten, dass Deutschland und andere entwickelte Länder einen Übergang von einer durch den Fordismus befriedeten Klassengesellschaft zu einer stärker polarisierten Klassengesellschaft erleben, die allerdings durch eine eigentümliche Stabilisierung der Instabilen gekennzeichnet ist. Die treibende Kraft dafür sind die Enteignungen, die nun auch im Zentrum des Kapitalismus intensiviert werden.
In Kapitel 5, bereits in Teil 3, wird Dörre zeigen, wie in den Kernstaaten die innere Sicherheit anstelle der sozialen Sicherheit in den Mittelpunkt des politischen Handelns rückt. In diesem Szenario entstehen neue »gefährliche Klassen«, deren bloße Existenz zunehmend autoritäre Enteignungen durch den Staat legitimieren wird. Zu diesem Zweck wird der Autor eine kritische Auseinandersetzung mit der reflexiven Anthropologie Pierre Bourdieus und den von ihm angebotenen Grundlagen einer Soziologie des Staates führen. Ausgehend von der interessanten Metapher des »Raubtierstaats«, die im französischen Szenario der Regierung Sarkozy auftaucht, wird Dörre analysieren, wie die Stärkung des Polizeistaats das Stigma der »Unterschichten« weitgehend bedingt. In diesem Kapitel zeigt der Autor auch den kausalen Mechanismus der Bildung von Unterschichten im Rahmen des Finanzkapitalismus auf, der diesen Prozess seiner Meinung nach vorantreibt.
Kapitel 6 befasst sich mit der Beziehung zwischen kritischer Theorie und Krise, die mit dem Konzept des kapitalistischen Enteignungsregimes in Verbindung gebracht werden muss. Klaus Dörre weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass sich die vorherrschende Strömung der neueren kritischen Theorie eine Interpretation des Kapitalismus zu eigen macht, die in der Tradition neoharmonischer Paradigmen steht. Damit haben wir eine Absage an die politisch-ökonomischen Interpretationen der Krisen und ihrer Grundlagen durch eine Theorie der kapitalistischen Enteignungsregime. Schließlich sucht der Autor nach Überlegungen zu ökologisch-ökonomischen Krisen und den neuen Herausforderungen für eine kritische Theorie der kapitalistischen Krisen. Diese Überlegung ist von großer Bedeutung für die heutige Zeit, in der viel über Krisen gesprochen wird, und zwar ungenau und mit der Tendenz, die Krisen des Kapitalismus zu naturalisieren.
Darüber hinaus wird der Autor zum Verständnis der aktuellen Krise in den Kernländern unter besonderer Berücksichtigung des deutschen Falles drei zentrale Aspekte aufzeigen. Zunächst ist es notwendig, die säkulare Stagnation und den Postwachstums-Kapitalismus zu verstehen. Dazu ist es notwendig, die internen und externen Enteignungen eines jeden Landes zu artikulieren. Und schließlich darf man nicht vergessen, dass die zentralen Volkswirtschaften des Nordatlantiks in eine ökonomisch-ökologische Krise geraten sind.
Angesichts einer solchen analytischen Fülle, gestützt auf jahrelange empirische Forschung, ist die Lektüre dieses Meisterwerks von Klaus Dörre nicht nur Pflicht, sondern auch eine Wohltat in solch schwierigen Zeiten. Die allgemeine Diagnose kann in einer so dunklen Zeit, die von einer vielfältigen Krise geprägt ist, die alle Dimensionen unserer Existenz betrifft, nicht optimistisch sein. In diesen Zeiten des intellektuellen, politischen und affektiven Leugnens bleibt uns nichts anderes übrig, als nach tiefgründigem, wissenschaftlich fundiertem Wissen zu suchen. Das Buch von Klaus Dörre ist ein entscheidender Beitrag in diese Richtung, der uns hilft, tragfähige Utopien für die nahe Zukunft zu erahnen.
Bibliographische Referenzen
- CASTEL, Robert; DÖRRE, Klaus. Prekarität, Abstieg, Ausgrenzung. Die soziale Frage am Anfang des 21. Jahrhunderts. Frankfurt; New York: Campus Verlag, 2009.
- DÖRRE, Klaus. Die neue Landnahme: Dynamik und Grenzen des Finanzkapitalismus. Recht & Praxis, UERJ, v. 6, n.3, 2015.
- DÖRRE, Klaus. »Risikokapitalismus. Landnahme, zweigeteilte Krise, Pandemie. Chance für eine nachhaltige Revolution?«. Sociedade & Estado, UnB, v. 35, n.3, 2020.
- DÖRRE, Klaus. Die Utopie des Sozialismus. Kompass für eine Nachhaltigkeitsrevolution. Berlin: Matthes & Seitz, 2021.
- DÖRRE, Klaus; ROSA, Hartmut; LESSENICH, Stephan. Soziologie – Kapitalismus – Kritik. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2009.
Theorem der kapitalistischen Enteignung von Klaus Dörre
Das vom Autor im Laufe der Jahre entwickelte und inzwischen im deutsch- und englischsprachigen Raum breit diskutierte Theorem des »Regimes der kapitalistischen Enteignung« ist in den Beiträgen von Rosa Luxemburg und ihrer Diskussion des Status der »so genannten primitiven Akkumulation« in Karl Marx‘ Kapital verankert. Der Autor formulierte ein solches Theorem, um darauf einzugehen, wie die Ausweitung der kapitalistischen Produktionsweise bemerkenswerte Auswirkungen auf die Überlegungen zu sozialen Klassen, zum Staat und zur Prekarisierung hat.
Theorem der kapitalistischen Enteignung, von Klaus Dörre, wird übersetzt von César Mortari Barreira und Iasmin Goes, eingeleitet und technisch überarbeitet von Guilherme Leite Gonçalves, mit Lena Lavinas als Hörer, Ruy Braga und Virgínia Fontes als Viertelcover, Antonio Kehl als Cover und DFG-Kolleg Postwachstumsgesellschaften als Unterstützung.